„Dieses Virus wird uns noch eine lange Zeit begleiten“

Am 13. Mai 2020 kreiste die Expertendiskussion im Düsseldorfer Medienzentrum der Rheinischen Post nicht nur – wie angekündigt – um Antikörpertherapien und schwere Krankheitsverläufe bei COVID-19. Es ging auch um den therapeutischen Einsatz des antiviralen Wirkstoffs Remdesivir, um die Diskussion zum Corona-Immunitätspass, um die Angemessenheit der jüngsten Öffnungsmaßnahmen und um zahlreiche Zuschauer-/Leserfragen. Sind Kinder kleine Virenschleudern? Sollten wir uns im Herbst gegen Grippe impfen lassen? Oder: Kommt jetzt der lokale Lockdown bei 50 Infizierten pro 100.000 Einwohner?

 

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

 

Öffnungsmaßnahmen angemessen?

Der Internist und Beirat des Forums Zukunftsmedizin, Prof. Dr. Heiner Greten (Asklepios-Klinik St. Georg, Hamburg) stellte fest: „Die erste Corona-Phase ist in Deutschland, im Vergleich zu allen anderen Ländern in der Welt, sehr gut gelungen. Das ist nicht zuletzt der Solidarität aller Bürger zu verdanken. Ob die neue Phase der Lockerungen erfolgreich sein wird, kann man zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Bundesbürger an das Vorgegebene halten. Es steht völlig außer Frage, dass man lockern musste, was ein Blick auf die Volkswirtschaft und ihre immensen Verluste erklärt. Nur darf dies nicht zum Preis einer neuen Infektionswelle geschehen. Für die würde dann auch die Ökonomie einen wesentlich höheren Preis zahlen. Die Kernfrage ist, ob die Dezentralisierung auf kleine Gemeinden erfolgreich sein wird, ob sie in der Lage sind, den anstehenden Problemen Herr zu werden. Doch zunächst gilt es, Zuversicht zu verbreiten, dass die jetzt gefundenen vernünftigen Lösungen tragen und uns allen zu Gute kommen.“

Zuschauer- und Leserfragen

Der Infektiologe Prof. Dr. Heiner Wedemeyer (Medizinische Hochschule Hannover) beantwortete vier Publikumsfragen in der Sendung:

Grippeimpfung im Herbst?

„Eine Grippeimpfung im Herbst ist unabhängig von Corona-Zeiten ganz klar zu befürworten. Ältere Menschen und Patienten mit chronischen Erkrankungen sollten in jedem Fall davon Gebrauch machen, da dies das Risiko einer Influenza-Erkrankung deutlich reduziert. Während der schweren Grippe-Saison vor zwei Jahren haben wir gesehen, dass Menschen mit einer chronischen Lebererkrankung durch eine klassische Influenza-Infektion auch eine deutliche Verschlechterung ihres Grundleidens bis hin zum Leberversagen erlitten haben. Also: Wenn ich eine Grunderkrankung plus Influenza habe und mich zusätzlich noch mit COVID-19 infiziere, ist grundsätzlich mit einem deutlich schlechteren Verlauf zu rechnen. Daher meine klare Antwort: Impfen in jedem Fall im Herbst!“

Sind Kinder Spreader?

„Kinder können sich grundsätzlich auch infizieren, wenn auch seltener als vulnerable erwachsene Personen. Die Frage aber ist, ob ein infiziertes Kind ähnlich infektiös für andere Menschen ist wie ein immungeschwächter 60-Jähriger. Hier ist die Arbeit des Charité-Virologen Prof. Christian Drosten interessant, der Viruslasten bei Routinediagnostiken analysiert hat. Er teilte die Patienten nach Altersgruppen auf und schaute sich die Virusmenge in den Abstichen an; sie war bei Kindern leicht niedriger. Ein eindeutiger Beweis aber, ob Kinder daher weniger infektiös sind, liegt damit noch nicht vor. Die Gefahr einer Ansteckung durch Kinder bleibt also bestehen. Daher sollten generelle Hygieneempfehlungen auch für diese Altersgruppe aufrechterhalten werden.“

Wie hoch ist das Risiko einer schrittweisen Beschulung bis zur Sommerpause?

„Die Konzepte, die jetzt zur Anwendung kommen, halte ich für sinnvoll. Es wird immer mal wieder Fälle geben, dass ein positiv getestetes Kind an einem Unterricht teilgenommen hat. Dann muss man evaluieren und ggf. Quarantänemaßnahmen durchführen. Das wird uns beschäftigen, zu medialen Diskussionen führen und mahnt uns, dass wir vorsichtig sein sollten. Aber wir müssen das epidemiologische Experiment jetzt wagen. Ich halte das Risiko in Anbetracht der Daten, die mir zur Verfügung stehen, bei angemessenen Maßnahmen für vertretbar.“

Lokaler Lockdown bei 50 Infizierten pro 100.000 Einwohner?

Hier sind die örtlichen Gesundheitsbehörden verantwortlich, um die Lage zu bewerten. Bei dieser rechnerischen Zahl muss man schauen, ob es mehrere Herde gibt oder ggf. eine Quelle, wo das Infektionsgeschehen lokal durch Isolierungen und Hygienemaßnahmen beherrschbar ist. Wenn jetzt in einem Krankenhaus oder einem Altenheim eine größere Zahl positiv Getesteter gezählt wird, ist eine Eingrenzung dort gut möglich. Dann ist es nicht notwendig, den gesamten Landkreis wieder unter Lockdown zu stellen.“

Einsatz von Remdesivir bei schweren Krankheitsverläufen

„Für die Substanz ist in Zellkulturen gezeigt worden, dass sie das Virus sehr gut hemmen kann“, sagt Prof. Wedemeyer. „Nach jüngsten randomisierten Studien – auch des US-Immunologen Anthony Fauci – konnte der Krankheitsverlauf verkürzt werden. Dem widerspricht eine Studie aus China, die überhaupt keinen Effekt beim Virusabfall ausmachen konnte, was wohlmöglich daran liegt, dass parallel andere Medikamente verabreicht wurden. Aber der Trend ist positiv, was die amerikanischen und europäischen Gesundheitsbehörden veranlasst hat, eine vorläufig positive Bewertung auszusprechen. In Anbetracht der Schwere der Erkrankung für Patienten, die kurz vor der Beatmung sind, ist es absolut angemessen, einen Behandlungsversuch durchzuführen. Es ist aber nicht so, dass wir uns in Sicherheit wiegen können, weil wir jetzt das Wundermittel gegen das Coronavirus haben. Die Datenlage ist noch sehr dünn, das mag im Herbst anders aussehen. Die Substanz ist sicherlich ein erster Schritt vorwärts, ist aber allein angewendet nicht die Lösung der vielen Probleme, die wir im Umgang mit diesem Virus haben.“

Antikörpertherapien und -tests

Die Antikörpertherapie durch eine Blutplasmaspende Genesener schätzt Prof. Wedemeyer wie folgt ein: „Das Prinzip ist fantastisch: Menschen haben erfolgreich eine Immunantwort entwickelt und Antikörper gebildet, die das Virus binden können. Diese Serumtherapie zur Übertragung einer Immunität ist ein Jahrhunderte altes Prinzip und wird vielfältig eingesetzt, u.a. bei unklaren Krankheitsbildern, bei denen wir nicht wissen, ob eine Infektion dahintersteckt oder bei spezifischen Erkrankungen, wo wir eine passive Immunisierung durchführen. Ich verspreche mir von diesem Verfahren, das u.a. in den Hamburger Asklepios Kliniken oder der Medizinischen Hochschule Hannover durchgeführt wird, viel – insbesondere bei Patienten mit schweren Krankheitsverläufen, um diese dadurch abzumildern.“

Antikörpertests der Roche AG

Der Epidemiologe Dr. Dietrich Knoerzer ordnete ein: „Roche bietet derzeit zwei Tests an. Der erste und sogenannte PCR-Test misst, ob Virusteile im Blut sind. Mit dieser Polymerase-Kettenreaktion können wir das virale Erbgut untersuchen. Nach Abstrich aus dem Mund-, Nasen- oder Rachenraum gewinnen wir im Labor einen Hinweis darauf, ob der Patient aktuell infiziert ist bzw. infiziert war und daraufhin Antikörper gebildet hat. Dieser Test wird auf Veranlassung des Arztes in Bezug auf COVID-19-Krankheitsanzeichen beim Patienten durchgeführt. Die Krankenkassen übernehmen dann die Kosten. Eine Prüfung des Immunstatus hingegen ist keine vertragsärztliche Leistung.

Der zweite Test zum Massenscreening von Individuen für epidemiologische Zwecke, der Elecsys Anti-SARS-COV-2 Test, ist nicht – wie der PCR-Test – zur Diagnose von Patienten in einem frühen, akuten Stadium der Erkrankung gedacht. Er dient dazu herauszufinden, ob sich ein Patient von der Infektion erholt hat, um über weitere Maßnahmen, wie etwa die Rückkehr zur Arbeit, entscheiden zu können. Um ein falsch-positives Ergebnis und damit das Risiko einer Virusexposition auszuschließen, verfügt der serologische Elecsys Test über eine sehr hohe Genauigkeit (Spezifität) von 99,8 Prozent. Auch hier übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten. Beide Tests helfen, mit guten Daten die vereinbarten Lockerungen zu begleiten.“.

COVID-19 als Multiorganvirus

Dr. Internist Prof. Greten sagte: „Es wäre gut, wenn wir mehr über die Krankheitsentstehung wüssten. Man hat lange geglaubt, dass COVID-19 eine reine Infektionskrankheit ist, die im Wesentlichen die Lunge befällt, unterschiedlich in ihrer Schwere ausgeprägt. Inzwischen weiß man, auch durch sorgfältige Nachuntersuchungen der verstorbenen Patienten, dass es sich um ein Multiorganversagen handelt. Schon vor längerer Zeit hat man in der Schweiz festgestellt, dass das Virus in den Blutgefäßen nachweißbar ist: im Dünndarm, der Leber, im Herzen und in der Lunge. Bei einer generalisierten Entzündung des Körpers, auch in der innersten Schicht der Blutgefäße, dem Endothel, werden mehrere Organe in Mitleidenschaft gezogen. Die eidgenössische Untersuchung konnte in der Zwischenzeit von verschiedenen Arbeitsgruppen bestätigt werden, was die Gefährlichkeit dieser Erkrankung unterstreicht. Dazu zählt die manchmal tödliche Lungenembolie auf der Basis der Gerinnungsstörung in entzündeten Gefäßen, wo sich Blutgerinnsel andocken. Auf diesen Krankheitsverlauf trifft man vor allem bei Erwachsenen.

In Hamburg startet dieser Tage eine Studie bei rund 6.000 Kindern und Jugendlichen zur Häufigkeit und Schwere einer Infektion mit dem Corona-Virus. Obwohl Kinder gemeinhin nicht von schweren Krankheitsverläufen heimgesucht werden, gibt es doch bedrohliche Ausnahmen. In vielen Ländern hat man bei Kindern schwerste Entzündungen festgestellt, die ebenfalls auf dem Wege der Gefäßerkrankung entstehen. Sie zeigen ein Krankheitsbild, das nach dem Erstbeschreiber „Kawasaki-Syndrom“ heißt und das einen Entzündungssturm im Körper auslöst. Kurzum: wir wissen jetzt um die Entzündungsprozesse in den Gefäßen, um eine verstärkte Thromboseneigung und können daher frühzeitig und präventiv in den Gerinnungsvorgang beim Menschen mit Blutverdünnern eingreifen.“

Unsere Experten zum Corona-Immunitätspass

„Der Immunitätspass beruhigt zunächst einmal der betroffenen Person und hilft auch uns Epidemiologen, sofern die Informationen freiwillig gegeben werden. Je mehr gesicherte Informationen wir haben, desto valider ist die Basis für zukünftige Entscheidungen.“ (Dr. Knoerzer)

„Information und Transparenz ist wichtig. Das betrifft auch die gesamte Diskussion rund um die Corona-App. Die Frage wird sein, was mir ein solcher Pass erlaubt. Im medizinischen Sektor kann er sehr sinnvoll sein, da ich als Klinikdirektor besser planen kann. Eine Einschränkung jedoch bleibt: niemand weiß derzeit, ob ich eine 100-prozentige Immunität nach überstandener Erkrankung entwickle. Diese Information aber ist essentiell, wenn ich darüber entscheide, wie ein solcher Pass im Alltag eingesetzt werden kann.“ (Prof. Wedemeyer)

„In Deutschland genießt der Datenschutz eine auch im internationalen Vergleich hohe Bedeutung. Wir sind aber mit einer Pandemie und schweren Krankheitsbildern konfrontiert und wissen nicht, wie die Dynamik des Infektionsgeschehens eines Tages beendet werden kann. Dieses Virus wird uns noch lange Zeit begleiten. Daher sollten alle Maßnahmen, die geeignet sind, jedem einzelnen Bürger, der gefährdet ist, Sicherheit zu vermitteln und mehr Freiheit zu geben, ergriffen werden. Meine Entscheidung ist eindeutig: Ich bin für den Corona-Immunitätspass.“ (Prof. Greten)

 



Digitale Sprechstunde

Hier haben Sie die Gelegenheit unserem Experten Ihre Fragen zu stellen:

Kommentar

0 Kommentare