„Es bleibt ein Fahren auf Sicht“

Fünf Experten, fünf Themenblöcke und eine Stunde Information und Meinungsaustausch.

Das Forum Zukunftsmedizin Live diskutierte am 27. April 2020 u.a. Rahmenbedingungen für eine verantwortungsvolle Exit-Strategie aus dem Corona-Lockdown und die Bedeutung der Reproduktionszahl beim Infektionsgeschehen. Die Wissenschaftler ordneten die Diskussion rund um die Ausbildung einer Herdenimmunität ebenso ein wie einen realistischen Zeithorizont für die Verfügbarkeit eines Impfstoffs gegen COVID-19. Auch die Bedeutung des jetzt bundesweit verpflichtenden Mund-Nasen-Schutzes (Community Maske) aus infektiologischer Sicht war ein Thema. Und schließlich erging ein dringender Appell an die Bürger, schwere Krankheitssymptome nicht aus Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus im Krankenhaus zu verschleppen.

 

DISKUSSION ZUR EXIT-STRATEGIE

Der Internist Prof. Dr. Heiner Greten (Asklepios-Klinik St. Georg, Hamburg) gab zu bedenken, dass bei allen Diskussionen rund um die weiteren Lockerungen nicht vergessen werden sollte, dass Deutschland hinsichtlich der Corona-Sterblichkeitsrate zu den vier erfolgreichsten Ländern weltweit zähle. Insofern wäre das bisherige Vorgehen richtig gewesen. „Die naturwissenschaftliche Begleitung der Politik über die zurückliegenden Monate war gut, zumal bei einer Bundeskanzlerin, die als Physikerin die Argumente auch einordnen kann.“ Der Ausstieg aus dem strengen Regime sei jetzt weniger eine medizinische als vielmehr eine ethische, juristische oder ökonomische. Die Deutschen würden bestimmte Maßnahmen für eine Zeit mittragen, dann aber über den Zeitverlauf der Anordnungen in der Ernsthaftigkeit nachlassen. Diese Phase würden wir zurzeit erleben. „Aber wenn wir den Exit so umsetzen, wie es manche vorschlagen, dann befürchten Virologen eine zweite Welle, und die wird schlimm und furchtbar. Auch und nicht zuletzt für die Volkswirtschaft. Wir müssen die Kurve flachhalten. Alles andere mündet in eine Katastrophe.“

Vehement widersprach Prof. Greten der These, dass schwere Verläufe der Virusinfektion nur ältere, vorerkrankte Menschen beträfen. „Es erkranken auch Kinder, manche auch schwer, wie ein Beispiel aus der Intensivmedizin der Münchner Uniklinik zeigt.“ Der Internist verwies auf die hohe Expertise der Fachgesellschaften wie der Leopoldina, die sich mit guten und diskussionswürdigen Vorschlägen in die Debatte eingebracht hätten. Aber in einem föderalistischen Deutschland seien die Umsetzungsentscheidungen eben dezentral geprägt. Daher die Vielstimmigkeit im Chor der Meinungen.

REPRODUKTIONSZAHL UND HERDENIMMUNITÄT

Prof. Dr. Dirk Arnold, Onkologe an der Asklepios-Klinik Altona in Hamburg, ordnete die Forderung des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung ein, eine dauerhafte Absenkung der Reproduktionszahl auf einen Wert unter 1 bei strikter Beibehaltung der Kontaktbeschränkung anzustreben. „Spontan, ohne dass es Gegenmaßnahmen geben würde, geht die WHO von einer Reproduktionszahl von etwa 2,4 bis 3,3 aus. Heißt: ein Infizierter würde zwischen 2,4 und bis zu 3,3 weitere Menschen anstecken, eine massive Zunahme.“ Prof. Arnold machte deutlich, dass eine Zahl unter 1 anzustreben wäre. Bereits bei einer Reproduktionszahl von 1,2 wäre unser Gesundheitssystem am Ende des Sommers an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit; bei einem Faktor 1,1 irgendwann im Herbst. Insofern könnten wir uns einen Wert von über 1 gar nicht erlauben. „Aber es bleibt ein Fahren auf Sicht, wir waren bereits bei 0,7 und sind jetzt bei 0,9 und müssen die Situation ständig abgleichen mit der Versorgungsrealität in den Krankenhäusern.“

Die Warnung von Kanzleramtsminister Helge Braun, dass die Ausbildung einer Herdenimmunität von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung ein Trugschluss sei, da dies bedeuten würde, dass es pro Tag 73.000 Neu-Infektionen geben müsse, um nur die Hälfte der Deutschen in 18 Monaten zu immunisieren, nahm Prof. Arnold zustimmend auf. „Bei 73.000 Neuerkrankungen pro Tag bedeutet dies doch, dass wenn auch nur ein Prozent der Bevölkerung ins Krankenhaus muss, sprächen wir von 730 Patienten täglich, davon vielleicht 365 Intensivfällen mit langtägigen Verweildauern. Das macht klar, dass dies nicht unser Weg sein kann. Wir müssen uns auf einen längeren Marathon einstellen, bis wir den Impfstoff haben. Darin steckt auch ein Appell an den Gemeinsinn. Zwei Dinge können uns auf dieser Strecke helfen: zum einen sind es die Tests und zum anderen ist es die Infektionskettenüberwachung. Mit diesen Hilfsmitteln könnten wir die Infektionszahlen geringhalten und etwas mehr öffentliches und wirtschaftliches Leben zulassen.“

IMPFSTOFF: ABER WANN?

Prof. Dr. Heiner Wedemeyer, Gastroenterologe an der Medizinischen Hochschule Hannover, verwies auf die WHO-Zahl von derzeit 89 Impfprogrammen weltweit sowie auf über 100 weitere Ideen und Ansätze. Das Ziel unterschiedlichen Vorgehens bei der Impfstoffentwicklung sei es, dass gesunde Menschen eine Immunantwort gegen COVID-19 aufbauen, um vor einer Infektion geschützt zu sein. Ob über einen sogenannten Totimpfstoff aus abgetöteten Corona-Erregern oder über die Gabe anderer Viren mit bestimmten Bestandteilen aus COVID-19 bzw. die Injektion von Botenstoffen des Virus‘, aus denen Eiweiße generiert werden, die Immunantworten liefern. Die Genehmigung des Paul-Ehrlich-Instituts für die erste Impfstudie in Deutschland läge mittlerweile vor. Beim Zeithorizont dämpfte Prof. Wedemeyer Hoffnungen auf kurzfristige Erfolge: „Wir werden im laufenden Jahr keinen zugelassenen Impfstoff haben, auch nicht bei beschleunigten Zulassungsprozessen. Ich hoffe, dass wir im Sommer 2021 über einen Impfstoff verfügen, den wir auch verschreiben können.“

Der Klinikdirektor warb für Vertrauen in unser Wissenschaftssystem. Es sei faszinierend zu sehen, wie sich bei aller sportlichen Konkurrenz eine neue Wissenschaftskultur bilde, wie viele Forscher ihre Kompetenz jetzt bündelten, um einen schnelleren Fortschritt zu generieren, indem sie zum Beispiel spannende Artikel vor Veröffentlichung in Fachzeitschriften auf Pre-Print-Servern zur Verfügung stellten.

WIE WICHTIG IST EIN MUND-NASEN SCHUTZ?

Nach bundesweiter Einführung so genannter nicht-medizinischer Alltagsmasken – etwa im ÖPNV oder in Geschäften und auf Märkten – brach Prof. Wedemeyer eine Lanze für diese viel diskutierte Präventionsmaßnahme. „Wir reden über einen Erkältungsvirus, der sich auch schon im Rachen vermehrt. Infektiöse Viren gelangen von dort beim Sprechen und Husten in kleinen Tröpfchen in die Luft und können andere Menschen infizieren. Gesunder Menschenverstand sagt mir, dass ich durch das Einziehen einer Barriere diesen Übertragungsweg verhindere oder reduziere. Es geht ganz klar darum, andere Menschen zu schützen. Ja, es macht Sinn! Wir sollten das in den kommenden Wochen und Monaten konsequent umsetzen, auch im Juni bei 25 oder 30 Grad.“ Eine Studie aus Südkorea habe eine Reduzierung der Virenlast um 50 Prozent bis 80 Prozent auch bei den Community-Masken festgestellt.

COVID-19: AUCH EINE NEUROLOGISCHE ERKRANKUNG?

Der Neurologe Prof. Dr. Joachim Röther (Asklepios Klinik Altona, Hamburg) sieht aus seinen Erfahrungen COVID-19 vorwiegend als Erkrankung der Lunge, auch wenn es in bestimmten Fällen Entzündungen des Gefäßsystems in anderen Organen gäbe. „Die neurologischen Miterkrankungen, über die berichtet wird, überzeugen mich ehrlicherweise nicht. Auch ein Teil von Grippeerkrankten bildet eine Hirnhautentzündung aus. Wir haben bei Corona auch Geschmacks- und Geruchsstörungen. Aber vieles wissen wir einfach auch noch nicht. Nur Berichte, dass Krankheitsbilder bis hin zur Hirnstamm-Entzündung vorlägen, überzeugen mich derzeit noch nicht. Man darf einfach nicht vergessen, dass Patienten, die schwer erkrankt sind, oftmals wegen der Schwere der Erkrankung neurologische Begleitsymptome haben.

KRANKENVERSICHERUNG: FACHINFORMATIONEN UND ERSTATTUNGSPRAXIS

Folke Tedsen, Leistungs- und Gesundheitsmanager beim privaten Krankenversicherer HanseMerkur, berichtete von einer regen Nutzung des Corona Chatbots auf der Homepage des Unternehmens, wo dieser an dritter Stelle nach Produktinformationen und aktuellen Hinweisen zur Reiseversicherung von einigen tausend Kunden und weiteren Interessenten durch die Verlinkung zu den Vertriebspartnern genutzt würde. Der breite Strauß dieses KI-Tools zu COVID-19 reiche von Informationen zu Gesundheitsämtern bis zu einem Symptom-Checker mit der Abfrage von Risikofaktoren. Nicht erstatten könnten Versicherer aber die Kosten für Schutzmasken, Desinfektions- und Hygieneartikel. Auch Ausgaben für zahlreiche Wunderpillen bzw. Nahrungsergänzungsmittel oder Vitaminprodukte würden nicht ersetzt. Ausgewogene, vitaminreiche Ernährung, ausreichende Bewegung an frischer Luft wären hier empfehlenswert.

APPELL AN MEDIZINISCHE EIGENVERANTWORTUNG

Prof. Arnold setzte den Fokus auch auf andere gesellschaftliche Gruppen. „Wir haben bei chronisch Kranken aktuell eine gewisse Unterversorgung. Viele Menschen mit ernsten Erkrankungen bleiben lieber zuhause, um das Krankenhaus nicht zu überlasten oder aus Angst, sich in der Klinik mit dem Coronavirus anzustecken. Wir müssen im Gesundheitswesen eine ausreichende Sicherheit für diejenigen schaffen, die andere medizinische Probleme haben. Das wird auch gehen, da wir die katastrophalen Verhältnisse, die wir in Italien oder New York gesehen haben, in Deutschland abwehren können. Die Strategie des Fahrens auf Sicht mit dem Fuß an der Bremse wird uns ermöglichen, uns auch allen anderen Patienten in den Kliniken ausreichend zu widmen.“ Auch sein Kollege Prof. Röther pflichtete diesem Appell bei. Er hatte gerade eine Woche zuvor einen 75-jährigen Patienten mit Schlaganfall-Symptomatik erst nach 24 Stunden durch Intervention des Hausarztes gesehen, weil dieser Angst vor einer Infektion in der Klinik gehabt habe. „Diese Problematik trifft gerade viele Neurologen und Kardiologen. Wenn typische Symptome für einen Schlaganfall auftreten, muss man die 112 anrufen und sich in die nächstgelegene Stroke Unit bringen lassen. Die Gefahr, sich im Krankenhaus zu infizieren, ist gering. Die Gefahr, dass (überlebens-)wichtige therapeutische Maßnahmen nicht getroffen werden, ist hingegen ganz groß.“

 



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