So schaffen wir das nicht!

Täglich meldet das Robert Koch-Institut (RKI) neue Rekordwerte an Infektionen mit COVID-19. Sie sind mittlerweile mehr als viermal so hoch als Anfang Oktober. Was bedeutet dieser exponentielle Anstieg? Was bedeutet der Anstieg für die Gesellschaft, für Patienten, Ärzte und Krankenhäuser? Wir haben vier Experten des „Forum Zukunftsmedizin“ nach ihrer Meinung gefragt.

 

Diese Herausforderungen müssen wir angesichts der hohen Infektionszahlen jetzt unbedingt meistern

Alles fing so gut an: In Deutschland bestand zu Beginn der Pandemiewelle im März eine intensive Zusammenarbeit zwischen Politikern und Wissenschaftlern. An der Spitze eine Bundeskanzlerin mit naturwissenschaftlicher Ausbildung und ein sehr engagierter Gesundheitsminister. Die Bevölkerung war diszipliniert und folgte durchaus vertrauensvoll den gemachten Anordnungen. Die internationale Presse und die wissenschaftliche Fachpresse berichteten voller Anerkennung. In Deutschland waren nahezu alle Maßnahmen, die das Infektionsgeschehen reduzieren sollten, zentral gelenkt und wurden trotz vorsichtiger Kritik der einzelnen Bundesländer auch befolgt. Dann kam die Stunde des Föderalismus und mit ihm viele unterschiedliche Meinungen und Herangehensweisen der Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen.

Es stellt sich nun angesichts der neuen hohen Infektionszahlen die Frage, ob der Föderalismus ein zu stumpfes Schwert gegen eine exponentiell wachsende Pandemiewelle ist. „Es gibt viele brennende Themen, die wir bundesweit nicht vernachlässigen dürfen“, mahnt Prof. Heiner Greten, Chairman Hanseatisches Herzzentrum, Asklepios Klinik St. Georg, Hamburg, und Beirat des „Forum Zukunftsmedizin“.

Drei wichtige aktuelle Themen sind nach Gretens Einschätzung:

  • Die bestmögliche Versorgung anderer Krankheiten wie Krebs
  • Ein gut funktionierender Krankenhausalltag für alle Patienten
  • Die Entwicklung eines effektiven Impfstoffs ohne Nebenwirkungen

Die gute Nachricht für Krebs-Patienten vorab: „Trotz der aktuell ansteigenden Corona-Fallzahlen bestehen derzeit keine ernsten Einschränkungen in der ambulanten und stationären Versorgung von Krebspatienten“, versichert Prof. Dirk Arnold, Leiter des Asklepios Tumorzentrums Hamburg und Chefarzt der Onkologie der Asklepios Klinik Altona.
„Doch eine Corona-Infektion kann möglicherweise den Verlauf einer Krebserkrankung beeinflussen oder umgekehrt: Die Krebserkrankung hat einen Einfluss auf den Verlauf der Corona-Infektion. Genaue Zusammenhänge sind biologisch und epidemiologisch (noch) nicht gut erforscht“, erklärt er. Dass es möglichst zu keiner Infektion kommen kann, dafür wird gesorgt. In Krankenhäusern und medizinischen Einrichtungen wie etwa Praxen für Strahlentherapie wird großer Wert auf Hygienekonzepte gelegt. Darüber hinaus gewährleisten Qualitätsmanagementprozesse eine hohe Sicherheit.
Doch viele Erkrankte zögern Arztbesuche und somit Diagnosen aus Angst vor Ansteckung hinaus. „Internationale Ergebnisse einer Studie aus Belgien deuten darauf hin, dass sich die Diagnose neuer Krebsfälle durch die COVID-19-Pandemie verzögert und Patienten erst zu einem späteren Zeitpunkt ihrer Krankheit diagnostiziert werden“, so Arnold. Deutsche Onkologen appellieren daher eindringlich an Personen, bei denen der Verdacht auf das Vorliegen einer Tumorerkrankung besteht, dies abzuklären. Viele Tumorerkrankungen sind besonders im Anfangsstadium gut zu behandeln, was zu einer höheren Heilungschance führt.

„Der Krankenhausbetrieb läuft auch für Krebskranke professionell weiter,“ versichert Arnold. In Deutschland nutzen viele Krankenhäuser bereits seit längerem digitale Tools wie etwa virtuelle Tumor-Konferenzen. Seit Frühjahr 2019 macht das auch das Asklepios Tumorzentrum Hamburg, so dass es bisher gut vorbereitet war, um die sektoren- und fachübergreifende Versorgung in der Pandemie aufrechtzuerhalten.

„Die wirklichen Herausforderungen beginnen erst jetzt“, ist Prof. Heiner Wedemeyer überzeugt. Der Direktor der Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Endokrinologie an der Medizinischen Hochschule Hannover weist darauf hin, dass unzählige Fragen geklärt werden müssten, wie etwa:

  • Wie können Untersuchungen und Behandlungen geplant werden, wenn Mitarbeiter kurzfristig ausfallen?
  • Wie kann das Risiko für Mitarbeiter und Patienten reduziert werden?
  • Wird es in vier Wochen genügend Testmöglichkeiten geben, wenn vielleicht weit über 20.000 Infektionen pro Tag in Deutschland auftreten?
  • Sind die räumlichen Voraussetzungen in den Krankenhäusern ausreichend: Gibt es genügend Isolationszimmer, Quarantäne-Stationen, Wartebereiche für getestete Patienten, bei denen noch kein Ergebnis vorliegt?
  • Können wir Besuche von Angehörigen von schwerkranken oder sterbenden Patienten auch in Risikobereichen ermöglichen, um die wichtige persönliche Begleitung oder einen würdevollen Abschied zu ermöglichen?

Zu den eher organisatorischen Herausforderungen in den Kliniken kommen nach Auffassung von Prof. Dirk Arnold noch weitere Unsicherheiten der Patienten. Denn es bestehe derzeit eine erhebliche Unsicherheit im Umgang mit Krebspatienten, die sich mit Corona infiziert haben. Eine Expertengruppe der Universität Birmingham sprach beispielsweise die Empfehlung aus, nach einem positiven Coronatest mit einer Krebsoperation vier Wochen zu warten, um die (mögliche) Komplikationsrate zu verringern.

Diese und viele weitere Forschungsergebnisse bezieht das Asklepios Tumorzentrum Hamburg in das individuelle und speziell auf den jeweiligen Patienten abgestimmte Therapiekonzept mit ein. Die an der Behandlung beteiligten Fachdisziplinen wie Onkologen, Organ-Spezialisten oder Radiologen entscheiden in Abstimmung mit den Patienten und Angehörigen, wie bezogen auf die aktuelle Corona-Lage mit der Behandlung zu verfahren ist. „Das Pausieren oder Verschieben von Therapien ist dabei immer eine Einzelfallentscheidung“, erklärt Arnold.

Aus Fehlern gelernt
„Wir lernen jeden Tag mehr über den Virus,“ so Prof. Tobias Welte, der als Ärztliche Direktor an der Klinik für Pneumologie, Medizinische Hochschule Hannover, tätig ist. „Fehler der Anfangsphase, wie eine falsche Beatmungseinstellung und ein medikamentöses Ausprobieren vieler Behandlungsmethoden und Arzneien, wie man es in China oder Italien beobachten konnte, werden nun vermieden,“ so Welte.

Bei der Betrachtung der hohen Neuinfektionsrate dürfe man nicht vergessen, dass die Testrate auf SARS-CoV-2 über die Monate deutlich erhöht wurde, seit Juli hat sie sich nach Angaben des RKI mehr als verdoppelt. Da viele der jüngeren Menschen nur wenig, manche gar nicht symptomatisch sind, erhöhe sich damit die Zahl der Infizierten zwangsläufig. „Aber die Testrate ist nicht der alleinige Grund für den Anstieg der Fallzahlen. Zweifellos haben Ärzte und Wissenschaftler in den letzten Monaten die Wirkungsweise des Virus besser verstanden, die Behandlung der Pandemie verbessert und die Therapie entsprechend ausgerichtet“, erläutert der Experte. Das gelte für die Beatmungstherapie auf der Intensivstation, aber auch für die medikamentöse Therapie. „Remdesivir als gegen den Virus gerichtete Therapie in der Frühphase der Erkrankung, Cortison zur Bekämpfung der überschießenden Immunantwort in der Spätphase und Blutgerinnungshemmung zur Vermeidung der für COVID-19 typischen Thrombenbildung haben sich etabliert,“ so Welte.

Über 50 neue Therapiemöglichkeiten befinden sich in der klinischen Prüfung. Als Beispiel kann die Antikörpertherapie genannt werden, die beim amerikanischen Präsidenten Trump versuchsweise eingesetzt wurde und die auch in Deutschland in Studien geprüft wird. Man könne nicht voraussagen, ob sich eine oder mehrere dieser Substanzen als erfolgreich erweisen, aber „noch nie in der Geschichte ist so viel Geld in die Erforschung neuer Therapien für eine Erkrankung investiert worden wie bei COVID-19“, betont er.

Ein Impfstoff muss sicher sein
Weniger optimistisch stimmt Welte die Impfstoffentwicklung. „Impfstoffe müssen nicht nur effektiv sein, sie dürfen auch keine schweren Nebenwirkungen verursachen. Die meisten Menschen überleben eine COVID-19 Erkrankung und werden wieder gesund. Schäden durch eine Impfung wären also nicht zu verantworten,“ betont der Mediziner.

Um Wirksamkeit und Sicherheit zu ermitteln, sind sehr große Studien mit Hunderttausenden von Probanden notwendig. Diese Studien laufen, aber die Studiendurchführung und -auswertung brauche Zeit. Und selbst wenn sich einer der Impfstoffe als effektiv erweist, muss er noch in ausreichender Menge produziert werden. „Vor Mitte nächsten Jahres können wir selbst im günstigsten Fall nicht mit einem Impfstoff rechnen“, ist Welte überzeugt.

Bis dahin müssen wir mit dem Virus leben. Die wichtigste Maßnahme sei und bleibe sicher die Einhaltung der Schutzmaßnahmen: Abstand, Mund-Nasen-Bedeckung, Händedesinfektion, regelmäßiges Lüften geschlossener Räume. Lokale Lockdown-Maßnahmen bei Ausbrüchen werden sich wohl nicht umgehen lassen. „Insgesamt wird jedoch das gesellschaftliche Leben aufrechterhalten werden können, wenn wir es schaffen, den Einbruch in den Bereich der Risikopatienten und der Alten- und Pflegeheime zu verhindern“, so die Einschätzung von Welte.



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