Zweites Forum Zukunftsmedizin Live

Fachärzte der Virologie, Infektionsprävention, Laboratoriumsmedizin, der Kardiologie, Neurologie, Onkologie und Gastroenterologie sowie ein Vertreter der privaten Krankenversicherung haben das aktuelle Pandemiegeschehen erneut für Sie eingeordnet.

 

Restriktionen, Ruhe und Geduld

Auch in dieser Woche am 30. März waren es drei Themenblöcke, welche die Diskussion jener sieben Experten des Forums Zukunftsmedizin Live strukturierten, die über 75 Minuten auch zahlreiche Leserfragen beantworteten. Es ging um übergeordnete gesellschaftlich-politische, ethische und wirtschaftliche Zusammenhänge, um praktische Aspekte wie Abstandsregeln, Medikation sowie Tests und last not least um Empfehlungen.

 

DIE GROSSEN FRAGEN

Der Internist und wissenschaftliche Beirat des Forums Zukunftsmedizin, Prof. Dr. Heiner Greten (Asklepios-Klinik St. Georg, Hamburg) widersprach vehement der These, die Zeit für eine bundesweit diskutierte Exit-Strategie sei schon gekommen. „Die Politik lässt sich derzeit in ihrer Entscheidungsfindung von Ärzten und Wissenschaftlern leiten. Und ich kann nur empfehlen, dass sukzessive auch Ökonomen und Statistiker die politisch Verantwortlichen beraten, denn die schrittweise Rückkehr zur Normalität wird kommen. Und insofern ist es vernünftig, darüber nachzudenken. Nur in der jetzigen Phase stehen wir erst am Anfang einer Krise, die sich für jeden noch wesentlich deutlicher ausprägen wird. Jetzt die Zügel zu lockern und quasi der Ökonomie Vorrang vor medizinischen Ratschlägen zu geben, halte ich für deutlich verfrüht und auch für überaus gefährlich.“

Auch der Onkologe Prof. Dr. Dirk Arnold (Asklepios-Klinik Hamburg-Altona) warnt vor einer schnellen Lockerung der Maßnahmen – die über Verhaltensänderungen dazu führen, dass die Kurve der Infektionen nicht zu steil ansteigt – da wir nicht wissen, wie belastbar unser Gesundheitssystem wirklich sei, zumal wir etwas Vergleichbares wie einen COVID-19 Stresstest noch nicht erlebt hätten. „Wir brauchen sicher noch zwei bis drei Wochen, um einigermaßen verlässlich sagen zu können, wie auch die intensivmedizinische Versorgung mit der weiteren Erkrankungsfrequenz Schritt hält,“ so Prof. Arnold. Der Chefarzt schließt für dieses Jahr die Verfügbarkeit eines Impfstoffs aus, der zur Immunisierung der Bevölkerung beitragen könnte. Mehr Hoffnung setzt er auf Medikamente, „die den Krankheitsverlauf abmildern können, um Patienten nicht zu gefährden. Deren Verfügbarkeit ist eine Frage von Monaten.“

Auf die Frage, ob die Ethik der maximalen Isolierung, die ja auch häusliche Gewalt, Suizide und Depressionen befördert, noch gerechtfertigt sei, warnte der Gastroenterologe Prof. Dr. Heiner Wedemeyer (Medizinische Hochschule Hannover) vor einem hektisch-reflexhaften Reagieren. „Die Basis für ethische Diskussionen ist Evidenz, und die Effizienz, der jetzt auf den Weg gebrachten Maßnahmen können wir erst in zwei bis vier Wochen beurteilen, auch wenn es zarte Hinweise darauf gibt, dass der exponentielle Anstieg der Neuinfektionen gebremst scheint.“ Der Mediziner verwies in diesem Zusammenhang auf eine Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrats vom 27. März 2020: „Wesentlicher Orientierungspunkt für die nahe Zukunft ist die weitgehende Vermeidung von Triage-Situationen, in denen Ärzte zu entscheiden gezwungen wären, wer vorrangig intensivmedizinische Versorgung erhalten und wer nachrangig behandelt werden soll.“

 

PRAKTISCHE ASPEKTE

 Prof. Dr. Thomas Schulz, Virologe an der Medizinischen Hochschule Hannover, erläuterte jene Rechenmodelle, die hinter dem Begriff der sogenannten „Herdenimmunität“ stehen, die bei 60 bis 70 Prozent einer durchinfizierten Landesbevölkerung liegt. Ließe man das Virus ohne Restriktionen jetzt wüten, wäre in wenigen Monaten dieser Zustand erreicht, jedoch um den Preis von 500.000 bis 600.000 zusätzlichen Toten und unbeschreiblichen Szenen in überlasteten Krankenhäusern. „Wenn wir es in den nächsten Monaten schaffen, die Infektionsrate so abzuflachen, dass das Gesundheitssystem nicht überfordert wird, können wir die Restriktionen auch wieder aufweichen und über einen intermittierenden Rhythmus von Lockerung und Lockdown bis zum Rest des Jahres, oder darüber hinaus, Zeit gewinnen, bis ein Impfstoff vorliegt. Dieser würde dann zunächst den gefährdeten Bevölkerungsgruppen zugutekommen, so dass man anschließend die finale Durchinfizierung laufen lassen könnte.“ Alle epidemiologischen Modelle basierten jedoch auf Zahlen, die in den nächsten Monaten durch Antikörpertests noch aussagekräftiger würden.

Der Labormediziner Dr. Oliver Harzer (BIOSCIENTIA, Ingelheim) ist gespannt auf die Zusammenführung der Daten valider Antikörpertests zu einem späteren Zeitpunkt der Epidemie. Derzeit stünden wir am Anfang des epidemiologischen Geschehens. Ein Unsicherheitsfaktor sei jetzt noch die Dunkelziffer jener 80 Prozent, die die Infektion lediglich mit leichten Erkältungssymptomen durchgemacht hätten. Harzers gute Nachricht für alle Besorgten: „Der Erreger ist in der Umwelt auf Dauer nicht überlebensfähig, auch nicht – wie von einigen Lesern befürchtet – im gechlorten Leitungswasser. Die gefährlichste Ansteckungsquelle bleibt der infizierte Mitmensch.“

Folke Tedsen, Leistungsmanager beim privaten Krankenversicherer HanseMerkur, glaubt nicht, dass vor Herbst dieses Jahres Großveranstaltungen wieder denkbar sind. Die Standard PCR-Tests zum Preis von rund 150 Euro würden anstandslos von seinem Unternehmen bezahlt. Um den zahlreichen Kundenanfragen zum Virus Herr zu werden, habe die HanseMerkur seit letzter Woche eine interaktive Corona-Auskunft auf die Website gestellt. Dieser Chatbot auf Basis einer KI-Software solle auch mittels einer Symptomabklärung helfen, unnötige Arztbesuche zu vermeiden. Zudem würden gesicherte Informationen rund um das Virus, basierend auf den Informationen aus dem Robert Koch Institut, zur Verfügung gestellt. Das intelligente Informationsangebot stehe allen Interessierten kostenlos zur Verfügung.

Zur Symptomatik von COVID-19 erklärte der Gastroenterologe Prof. Dr. Heiner Wedemeyer: „Es ist nicht bei jeder leichten Grippe ein PCR-Test notwendig. Bei der Corona-Infektion steht am Anfang ein trockener Reizhusten eindeutig im Vordergrund. Dazu gesellt sich Fieber. Nur bei schweren Verläufen kommt eine Lungenentzündung hinzu, auch mit Luftnot und einer gesteigerten Atem-frequenz. Bei dieser Symptomatik ist in jedem Fall ein Arzt zu informieren und ein Test zu initiieren.“

Der Neurologe Prof. Dr. Joachim Röther (Asklepios Klinik Hamburg-Altona) appellierte angesichts zweier betagter Patienten mit Pneumokokken-Meningitis in seiner Klinik daran, die eigene Impfmüdigkeit zu überdenken. „Vielleicht bringt die COVID-19 Epidemie die Einsicht, dass wir uns gegen viele schwere Erkrankungen schützen können, es aber oftmals nicht tun.“ Auch wenn Pneumokokken-Impfstoffe derzeit schwer verfügbar seien, sollten die über 60-Jährigen ihren Hausarzt kontaktieren und sich zu einem späteren Zeitpunkt unbedingt impfen lassen. Für die in den Medien empfohlene Absetzung von ACE-Hemmern oder von Ibuprofen, gäbe es, so Röther, angesichts des aktuellen Pandemiegeschehens keine evidenzbasierte Begründung. Auch Patienten, die auf Immunsuppressiva angewiesen seien, sollten die Therapie jetzt bitte nicht unterbrechen.

 

EMPFEHLUNGEN/FAZIT

Prof. Greten: „Wir haben heute viele Mediziner gehört, die sich nicht widersprochen haben. Das ist durchaus außergewöhnlich. Alle appellieren an die Aufrechterhaltung einer guten Solidarität. Dem schließe ich mich an.“
Dr. Harzer: „Wir sollten uns weiter an die Regeln halten, die Entwicklung der Infektionen weiter verlangsamen und keine schnelle Lockerung der Maßnahmen ins Auge fassen.“
Prof. Röther: „Wir sollten unsere Gelassenheit nicht verlieren. Wir können auf ein sehr gut aufgestelltes Gesundheitssystem bauen. Symptomfreie Patienten haben in den Notaufnahmen nichts zu suchen. Die begrenzte Menge an Test-Kits sollten wir nur bei klarer Symptomatik einsetzen.“
Folke Tedsen: „Wir brauchen jetzt alle Geduld. Das ist das Motto der Stunde.“
Prof. Wedemeyer: „Neben der Beharrlichkeit im Vorgehen gegen COVID-19 sollten alle Bürger ihre anderen Erkrankungen weiter ernst nehmen. Das gilt auch für die Einnahme von Medikamenten, selbst wenn sie das Immunsystem beeinflussen.“

 

Die Experten der zweiten Forum Zukunftsmedizin Live

Prof. Dr. Dirk Arnold, Chefarzt der Abteilung für Onkologie mit Sektion Hämatologie, Asklepios Klinik Altona, Hamburg
Prof. Dr. Heiner Greten, Chairman des Herz-, Gefäß- und Diabeteszentrums an der Asklepios-Klinik St. Georg, Hamburg
Dr. Oliver Harzer, CEO Bioscientia Healthcare GmbH, Ingelheim
Prof. Dr. Joachim Röther, Chefarzt der Abteilung für Neurologie an der Asklepios Klinik Altona, Hamburg
Prof. Dr. Thomas Schulz, Direktor des Instituts für Virologie der Medizinischen Hochschule Hannover
Folke H. Tedsen, Prokurist und Abteilungsleiter des Leistungs- und Gesundheitsmanagements sowie des KundenServiceCenters der HanseMerkur.
Prof. Dr. Heiner Wedemeyer, Direktor der Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Endokrinologie der Medizinischen Hochschule Hannover

 

Durch die Sendung führten:

Pia Kemper, Initiatorin des Forums Zukunftsmedizin und Leiterin der Finanz- und Wirtschafts-EXTRAS des Rheinische Post Forums.
Christopher Peterka, Geschäftsführer gannaca GmbH, Prognosefuturist



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